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Hannoversche Allgemeine vom 24.10.2005


Der Glaube. An die Vernunft

Christoph Frick verschlankt Lessings Ideendrama im hannoverschen Staatsschauspiel

Von Rainer Wagner


Ist "Nathan der Weise" ein gutes Theaterstück oder - nur? - ein nützliches? Soll man Lessings "dramatisches Gedicht" wegen seiner Sprache aufführen oder wegen seiner Thesen? Will man deutsche Literaturgeschichte auf die Bühne bringen oder den ultimativen Toleranzappell? Es gibt jedenfalls genügend Gründe, das Stück immer wieder zu erproben (wie's der Zufall wollte, hatte am Sonnabend "Nathan der Weise" nicht nur im hannoverschen Staatsschauspiel Premiere, sondern auch im Hildesheimer Stadttheater).

In Hannover geht es Christoph Frick offenkundig weniger um den Theaterdichter Gotthold Ephraim Lessing als um den Theaterdenker Lessing, den Mechaniker der Handlungsmaschinerie. Frick und sein Dramaturg Robert Koall haben Lessings Text drastisch zusammengestrichen - und die Blankverse schon mal durch blanken Alltagston ergänzt: Lessing light. Die Gelenke sind noch da, doch es fehlt viel Fleisch. Das muss kein Schaden sein - außer für Deutschlehrer, die jetzt im Unterricht nachzuliefern haben, was auf der Bühne an Sprachbildhaftigkeit fehlt. Für den Ethikunterricht taugt der Abend aber in jedem Fall.

Regisseur Frick und seine Ausstatterin Viva Schudt verzichten auf jegliche Folklore, auf jede Verortung des Geschehens, das - wenn man den alltäglichen Kleidern trauen darf - hier und heute spielt. Und sie ersparen sich und uns (und das ist ihnen gar nicht hoch genug anzurechnen) jede vordergründige Aktualisierung: kein Palästina, kein Irak-Krieg, keine Intifada, keine Maschinenpistolen und keine Selbstmordattentäter. Auch Philipp Haagens dezent stimmungsvolle Hintergrundmusik verzichtet auf eindeutige Zuordnungen.

Dass zu Beginn das Ensemble im Hintergrund des weiten Bühnenraums auf seinen Einsatz wartet, ist ein Einfall, der zurzeit etwas in Mode ist. Gar nicht modisch, sondern sehr originell ist die Spielfläche, die Schudt im Vordergrund aufschütten hat lassen: rotes Gummigranulat, das aussieht wie roter Sand, aber weniger verletzungsgefährlich ist. Zwei aufgeschüttete Hügelchen dienen auch als Sitzgelegenheiten, nur Sultan Saladin schleppt zusammen mit Schwester Sittah seinen Thron auf die Spielwiese. Auf der ansonsten demonstriert wird, wie man den Kopf in den "Sand" stecken kann, wie im Kampf der Argumente nicht nur die Funken stieben, sondern auch der Bodenbelag spritzt und springt.

Frick hat darauf geachtet, dass die zentrale "Ring"-Parabel, um die sich das Stück zu drehen scheint, auch in seiner Digest-Fassung im Zentrum des 100-Minuten-Spiels steht. Aber er hat einen weiteren Kreis eingebaut. Ganz am Ende, wenn endlich alle mit allen verwandt und versöhnt sind (na ja, die Liebenden müssen erst noch lernen, mit Geschwisterliebe vorlieb zu nehmen), verzichtet der Regisseur auf Lessings Regieanweisung "Unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang". Hier wiederholt Nathans Haushälterin Daja jene Feuermeldung, mit der das Stück auch begonnen hat. Für Nathan, für einen Juden in dieser Lage, bleibt die Lage brandgefährlich.

Die Rettung kann nur der Glaube sein: der an die Vernunft. Und so spielt Hannes Hellmann auch den Nathan. Der ist kein Fleisch gewordenes Toleranzedikt, kein Schlaumeier, selbst wenn er seine "Ring"-Erzählung als Märchen einstuft, mit dem man nicht nur Kinder abspeist. Sein Nathan ist ein Besonner, der gelassen reflektiert, ob seine Bewunderer Weisheit mit Klugheit verwechseln. Umso eindringlicher ist der Moment, wenn einmal die Gefühle aus ihm herausbrechen, wenn er sich erinnert an den Mord an seiner Frau und seinen sieben Kindern. Es kann wehtun, weise und milde zu sein.

Nicht alle Gegenspieler haben in dieser Textfassung ähnliche Chancen, ihre Figuren plastisch werden zu lassen. Wolf Bachofner immerhin lässt erkennen, dass der huldvolle Sultan Saladin auch gefährlich sein kann. Und Daniel Lommatzsch darf sich als junger Tempelherr ausgiebig erregen, wirkt aber gerade in seinen Ausbrüchen etwas übertrainiert. Sonja Beißwengers Recha hat kaum Chancen, ihre Seelennöte vorzuführen, nutzt sie aber sympathisch - was es für ein junges Mädchen bedeuten muss, innerhalb kürzester Zeit von einer Rolle in die nächste schlüpfen zu müssen (gelernte Jüdin, getaufte Christin und entdeckte Muselmanntochter, dazu Liebende und Schwester), das kann diese Hurtigversion des Dramas nicht erzählen. Auch Michaela Steiger als bestechliche Daja und Veronika Steinböck als bestechende Sittah müssen fast Spielfiguren auf dem Schachbrett der Handlungszüge bleiben. Dafür gibt die Inszenierung zwei Randfiguren der Gesellschft mehr Farbe: dem Derwisch und Teilzeitvermögensberater des Sultans, dem Moritz Dürr eloquente Ratlosigkeit verleiht. Und dem Klosterbruder, der hier gleich die Stichworte des hetzerischen Patriarchen von Jerusalem miterledigt: "Macht nichts, der Jude wird verbrannt." Matthias Buss lässt diesen Charakter oszillieren.

Für Erhabenheit ist an diesem kurzweiligen Theaterabend keine Zeit, für Einsichten schon. Wenn zum Finale noch eine weitere unerwartete Verwandschaft entdeckt wird, lacht das Publikum spontan auf. Es hat durchschaut, wie sehr sich Lessing anstrengen musste, um wenigstens im Theater alles zum Guten zu wenden und das (Mit-)Gefühl siegen zu lassen.

Das Publikum reagierte mit Sympathie auf so viel Empathie: einstimmige Zustimmung.
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zuletzt aktualisiert am 13.11.2005